Körper und Psyche

Eine andere Umschreibung für den Begriff Körper ist das alte Wort
Leib, den wir viel passender finden in unserem Zusammenhang, denn es
drückt deutlich die innewohnende Komplexität aus.

Begriffe wie einverleiben, leiblich oder leibhaftig beschreiben neben
dem körperlich Sichtbaren auch etwas Gefühlsmäßiges und Innerliches.
Körper und Psyche sind eng miteinander verwoben. Deshalb öffnet sich ein
körperlicher Zugang zur Psyche.

Über den körperlichen Kontakt verlaufen zwischenmenschliche
Beziehungen direkter und eindringlicher als über den Intellekt. Für die
Persönlichkeitsentwicklung eines Kindes ist dieser Zusammenhang
elementar. Was es früh ganz körpernah und ohne Worte erlebt, prägt
nachhaltig sein psychisches Erleben: Ein vorsprachliches Kind hat über
viele Monate ausschließlich die körperlich-sinnliche Ebene, um sich und
die Umwelt wahrzunehmen und zu kommunizieren.

 Wer bin ich?

Freut sich das Gesicht, das mich beim Wickeln anschaut? Fühlen sich
die Bewegungen des haltenden Armes beim Baden zärtlich an? Bin ich
willkommen? Habe ich hier meinen Platz? Bereite ich Freude?

 Wie sind die anderen?

Welche Reaktionen zeigt die Umwelt, wenn ich mich einbringe? Werden
meine Bedürfnisse gestillt? Welche spannenden Dinge werden mir gezeigt?

Hier beginnt die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. Seine
individuelle Haltung bereitet uns in der Prävention oft Freude, leider
aber nicht selten auch Sorgen: Stimmen das Lernverhalten, die
Aufgeschlossenheit und die Motivationsbereitschaft? Ist das Kind
kreativ, wie kommuniziert es, nimmt es am Beziehungsgeschehen aktiv
teil?

Der Ursprung für körperbezogene Gefühle, für unser Körperbild,
liegt in ganz frühen Erfahrungen, die zunächst bei unserer Geburt
beginnen als Bruch aus einer pränatalen Einheit, die das Ende eines
Verschmelzungszustandes einleiten. Diese erste, tiefgreifende Erfahrung
bleibt essentiell: Den plötzlichen „Mangel am Körper des anderen“
kompensiert jeder von uns auf individuelle Weise. Die Haltung der Mutter
(oder des versorgenden Vaters) wird zum lebenslang wirksamen Beispiel
und manifestiert die Grundlagen unseres psychisch-emotionalen Seins.

In der weiteren Entwicklung des Kindes wird dieser rein körperliche
Dialog erweitert durch erste Handlungen und Beziehungen zu Objekten
(Kuscheltier), erste Worte, bewusste Blicke und mimische Gebärden. Der
bilaterale Austausch, der Dialog beginnt und heißt das Kind als soziales
Wesen willkommen. Auffälligkeiten in der Motorik eines Kindes sind nie
eindimensional verursacht. Motorische Koordinationsschwächen müssen wir
als einverleibte Kommunikationsstörungen deuten, der Körper dient als
Ausdrucksfolie innerer Prozesse. Häufig sind Körperzonen betroffen, die
primäre Funktionen haben. Es entstehen Somatisierungen (körperliche
Symptome), die wir unter dem Begriff sychosomatik kennen.

 

Leben heißt Bewegen

Der Körper in Bewegung, in seiner emotionalen und kreativen
Handlungsfähigkeit, mit ihr wollen wir arbeiten, weil sie der einzig
wahrhafte Ausdruck des Kindes ist.
(B. Aucouturier)

 

Unser Bewegungsverhalten hängt eng mit unserer psychischen Verfassung
zusammen. Durch die Motorik wird nach außen sichtbar, was innerlich
vorgeht. Leben heißt Bewegen. Schon die Befriedigung unserer ersten
Lebensziele macht Bewegung nötig. Damit verbunden ist die elementare
bewegte Lust zu sein. Die Freude an der Beweglichkeit führt das Kind in
den Raum. Begegnungen und Kontakte finden statt, mit Dingen und
Menschen, auch mit Tieren und Pflanzen.

Der psycho-affektive Kern determiniert die gesamte Entwicklung eines
Menschen. Das heißt, wenn das Kind die Dynamik seiner Person, seines
Seins wiedergefunden oder bewahrt hat, wenn die Autonomie seiner Wünsche
wirklich gesichert ist, wird es erstaunlich offen. Es integriert
schnell eine große Quantität an Kenntnissen unter der Bedingung, dass
man ihm Nahrung liefert für sein Bedürfnis zu erfahren und zu handeln
und besonders unter der Bedingung, dass man es nicht zu selektioniertem,
atomisierten, uniformierten und chronologisch programmiertem Wissen
zwängt und es darin einengt.
(Piaget)

Der bekannte Entwicklungspsychologe Piaget hat den Begriff der
Sensomotorik geprägt, mit der die entwicklungspsychologische Phase des
Kindes bis zum zweiten bis dritten Lebensjahr, also bis zum Einsetzen
der Sprache, erstmals ausführlich dargestellt wurde. Aufgrund dieser
Erkenntnisse sind die meisten der heute angewandten
entwicklungsfördernden, pädagogischen Programme entstanden.

In der sensomotorischen Phase macht das Kind alle seine Erfahrungen
über den Körper und die Sinnesleistungen. Erst im Anschluss daran folgen
die Phasen des abstrakten, operationalen Handelns und Denkens.

Was bei Piaget fehlt ist der Beziehungsaspekt (als Grundlage
für die Strukturierung des Körperbildes) und die Erklärung, welche
Faktoren die Ausbildung des Körperbewusstseins verhindern. Diese beiden
Aspekte bringt Aucouturier mit ein, indem er grundsätzlich davon
ausgeht, dass menschliches Handeln immer einen Sinn hat. Aucouturier
schuf den Begriff der Somatischen Expressivität als Umschreibung
für die jedem Individuum eigene Art, körperlich zu sein, sich zu
bewegen, zu handeln, sich mimisch und gestisch auszudrücken, seinen
Tonfall und Bewegungsrhythmus zu haben. Diese Ausdrucksformen hängen,
wie wir gesehen haben, ganz wesentlich davon ab, welche Erfahrungen das
Individuum bis dahin gemacht hat. Diese Art sich auszudrücken, ist die
Arbeitsgrundlage der Psychomotorischen Praxis Aucouturier. Die
Art des Kindes wird respektiert, als sinnvoll anerkannt. Die Fähigkeit
zum individuellen Ausdruck soll dem Kind zurückgegeben werden, sofern
sie gehemmt oder gestört ist.

Unser ganzheitliche Ansatz initiiert ein Tätigwerden des Kindes über das Medium Bewegung,
dass bei allen Kindern bis zum Alter von etwa acht bis zehn Jahren
schlechthin die Form des Handelns und Lernens ist. Die kognitiven,
motorischen und emotionalen Anteile der Entwicklung werden gefördert.

Ein weiterer Aspekt der Ganzheitlichkeit ist die Methodik. Wir gebrauchen neuerdings gezielt den Begriff Entwicklungsbegleitung, in Abgrenzung zur sogenannten Förderung. thera-peuton (griechisch) bedeutet Begleiter, Fürsorger.
Dieser Wortsinn kennzeichnet unser therapeutisches Selbstverständnis:
wir stellen dem Kind einen geeigneten Handlungsrahmen zur Verfügung,
gehen eine Beziehung zu ihm ein und begleiten es durch seine Geschichte.